Manufacturing Execution System macht Tempo im Sondermaschinenbau
AWM AG | Arnstadt, Deutschland
Nun steuern Prozesse statt Personen die Fertigung: Sondermaschinen entstehen über einen längeren Zeitraum hinweg in einem komplexen Ingenieurs- und Herstellungsprozess, begleitet von wiederholten oftmals ungeplanten Änderungen. Um die Planung und Steuerung digital, transparent und agil zu machen, um Fehlerrisiken und Durchlaufzeiten zu senken, setzt die thüringische AWM AG auf ein Management Execution System (MES) von Hummingbird.
Mit Erfolg: Seither gingen Überstunden, Such- und Wartezeiten drastisch zurück.
Eine Sondermaschine ist ein Unikat aus bis zu 20.000 Teilen. Allein ihre Montage kann ein Jahr dauern. Vorher sind Maschine und Teile zu konstruieren, letztere zu fertigen oder einzukaufen, möglichst termingerecht zur gezielten Verwendung. Wann welche Teile, Werkstoffe und personelle oder maschinelle Ressourcen gebraucht werden, gilt es modulweise zu planen. Herausforderungen gibt es zuhauf: konstruktive Änderungen, plötzliche Lieferengpässe, die Schaffung eines reibungsarmen logistischen Versorgungskreislaufes. Oder die schnelle Antwort auf eine einfache Frage: Wo ist das jetzt benötigte Teil gerade?
„Hummingbird ist das einzige wirklich agile Planungssystem, das wir am Markt kennen. ERP-Systeme sind zu statisch und können unsere hohe Dynamik nicht abbilden.“
Vorstand Dr. Scharn
In guten Lösungen für diese hochkomplexe Aufgabenstellung steckt viel Brisanz. „Wir geben dem Kunden vorab einen Preis für eine Maschine, ohne deren finales Design genau zu kennen, und müssen sie in festgelegter Zeit produzieren. Und wir möchten, dass unser Auftraggeber damit eine höhere Produktivität und Qualität als mit Wettbewerbslösungen erreicht. Darum müssen wir auch selbst höchst effizient und wirtschaftlich agieren“, beschreibt Dr. René Scharn die Ansprüche im Geschäftsbereich Sondermaschinenbau, den er in der Arnstädter Werkzeug- und Maschinenbau (AWM) AG leitet. Die Thüringer fertigen seit fünf Jahrzehnten mit derzeit 147 Mitarbeitern schlüsselfertige Handarbeitsplätze, hybride Montagelösungen und komplexe Montagelinien, hauptsächlich zur Herstellung von Sensoren, Fahrwerks- und Motorlagern, mechatronischen Produkten, Kfz-Lichttechnik und Oral-Care-Produkten. Dabei stützt sich der international aktive, inhabergeführte Mittelständler auf einen eigenen Werkzeugbau.
Aus der Serienfertigung lernen
Eine zentrale Frage für den Sondermaschinenbau hieß: Wie schaffen wir transparente Fertigungsprozesse, insbesondere eine agile Planung und Steuerung, reduzieren Fehler und bewahren zugleich unsere Flexibilität bei Änderungen wie auch unsere Termintreue? Die Antwort folgte in zwei wesentlichen Schritten: Dr. Scharn stellte als Fertigungsleiter Dipl.-Ing. Jens Böhme ein, der von einem namhaften deutschen Industrieunternehmen kam und Prinzipien aus der Serienfertigung auf den Sondermaschinenbau anwandte. Und als digitales Planungs- und Steuerungssystem kam das Manufacturing Execution System (MES) der Nürnberger Firmen Hummingbird Systems und Hummingbird Services an Bord. Das System wird insbesondere in Einzelfertigungsbetrieben mit weniger als 15 bis über 400 Mitarbeitern europaweit eingesetzt. „Es ist das einzige wirklich agile Planungssystem, das wir am Markt kennen. ERP-Systeme sind zu statisch und können unsere hohe Dynamik nicht abbilden“, begründet Dr. Scharn die Auswahl.
Anfang 2020 startete Jens Böhme eine Wertstromanalyse und nutzte zuerst vernetzte Excel-Tabellen für die Abbildung des Workflows. In gemeinsamer Arbeit mit Marcus Kalbacher, Geschäftsführer von Hummingbird Services, wurde ein Pflichtenheft erstellt und die Adaption des Standard-Hummingbird-MES an die AWM-Bedürfnisse erarbeitet. Hummingbird setzte in der MES-Software die Steuerung der Baugruppen-Kommissionierung und internen Logistik für das AWM-Projekt neu um. Bei AWM verteilt ein Logistiker nun nach dem sogenannten Milkrun-Prinzip Baugruppen und Teile an den verschiedenen Arbeitsplätzen und nimmt Material wieder mit. „Diese Versorgungsgänge, die zuvor ungetaktet und nach Bedarf durchgeführt wurden, ließen sich mit Hilfe der MES-Steuerung auf zwei Gänge pro Tag zu festen Zeiten beschränken“, so Jens Böhme.
Plötzlich keine Überstunden mehr
Seit Anfang 2021 läuft das MES und steuert die Produktion von der Zeichnungsausgabe bis zum fertig kommissionierten Teil. Alle Vorgänge, Teile, Ressourcen und Kapazitäten werden nun erfasst und sind transparent im System sichtbar. Dies macht eine Online-Planung der Fertigung, eine agile Steuerung der Prozesse überhaupt erst möglich. Der Nutzen zieht sich durch alle Bereiche: Schon bei einer Kundenanfrage lässt sich schnell feststellen, wann benötigte Ressourcen verfügbar sind, verbindliche Termine können somit umgehend rückgemeldet werden. In der Fertigung müssen die Konstrukteure und Projektleiter das Einsteuern der vielen Teile nicht mehr mit hohem Aufwand koordinieren. Das MES steuert nun anhand der Planung die jeweiligen Aufgaben und die Abläufe. Es signalisiert Engpässe oder Verspätungen und reagiert sofort auf Veränderungen. Mit MES und standardisierten Lagerplätzen hat auch die Suche nach Teilen ein Ende, die vorher rund 23 Prozent der Arbeitszeit verschlang.
Der Erfolg des Ganzen: Die Termintreue ist sicherer erreichbar, die Durchlauf- und Wartezeiten sanken. „Trotz großer Auftragslast brauchten wir plötzlich keine Überstunden mehr“, sagt Jens Böhme. Bald soll auch die Montageplanung über das MES laufen. „Das sind Riesenschritte für einen Maschinenbauer“, so Dr. Scharn, der einen Schritt als entscheidend betrachtet: Bisher lag die Produktion in der Hand der Konstrukteure und Ingenieure. Diese mussten ihr Vorgehen nun komplett umstellen, die Steuerung an das MES abgeben und sich zugleich der Denkweise eines Serienproduzenten öffnen. „Wenn wir aber wettbewerbsfähiger werden wollen, brauchen wir kürzere Durchlaufzeiten und ein für jeden verbindliches, transparentes System, das auch funktioniert, wenn jemand ausfällt“, erläutert Dr. Scharn.
Marcus Kalbacher kennt diese Problematik: „Mit der Einführung eines MES kommt zugleich die Umstellung vom personen- auf die systemgesteuerte Fertigung. Das braucht Übergangs- und Gewöhnungszeit. Aber danach wird schnell klar: Ein gutes MES ist ein echter Tempomacher im digitalen Zeitalter.“
Fotos: AWM/Hummingbird